Zu „Chasing Tales“ gibt es auch einen Gastbeitrag von Uli Twelker, mit dem schönen Titel „Entspanntes Alterswerk voll Augenzwinkern, Schmunzeln und Fingerschnippen“, für den wir uns herzlich bedanken.
Steve Gibbons und Bücher
Steve Gibbons liebt Bücher. Und es steht zu vermuten, dass er in seinem nächsten Leben einmal als Schriftsteller statt als Musiker probieren würde. Dieser Eindruck drängt sich einem auf, wenn man seine Alben in die Hand nimmt und der mittlerweile aussterbenden Kunst des Studiums von Plattencovers frönt. (In das Bild passt auch, dass man ihn dann, wenn er auf Tourneen ein paar Minuten Zeit hat, mitunter im neuesten Katalog von „Bibliophile- Britains Best Postal Book Bargains“ schmökern sehen kann. )
Albumtitel und aufgeschlagene Bücher auf den Covers früherer LPs
Der erste Verweis auf Bücher findet sich im Titel seiner Solo-LP aus dem Jahr 1971, die den Titel Short Storys, also Kurzgeschichten, trägt.
Später rückten dann Bücher sogar auf der Verpackung der Tonträgern der Steve Gibbons Band direkt ins Bild.
Wer sich bei deren erster LP Any Road Up nicht zu sehr von der fünfköpfigen Gang harter Männer auf der Vorderseite ablenken lässt, wird auf der Rückseite – umrahmt von einer vor sich hin glimmenden Zigarette, einem Hut, einem Revolver, dem Notizzettel eines Privatdetektives und dem kleinen Modell einer Spit Fire – auf die aufgeschlagenen Seiten eines Buches stoßen.
Darin kann man den Auszug einer (schon wieder!) Kurzgeschichte lesen. Dieser macht alleine keinen Sinn, aber Lust auf das Vorher und Nachher dieser Geschichte (die es vermutlich überhaupt nicht gibt).
Auf der nachfolgenden LP bestimmt dann Steve Gibbons alleine das Titelbild.
Gleich geblieben ist jedoch, dass sich auch auf der Rückseite des Covers dieser LP das Bild eines aufgeschlagenen Buchs findet.
Dieses Mal ist es umgeben von einem Hut, und einer vor sich hin glimmenden Zigarette. (Notizzettel und Spitfire sucht man dagegen vergebens. Hier ist also Raum für Deutungsversuche von Gibbons-ologen!) Wiederum hätte man Lust, das „Vorher“ und „Nachher“ des Textes zu lesen. Auch hier wird man enttäuscht und der eigenen Fantasie überlassen.
Bei der Vinylversion von Saints & Sinners muss man länger nach dem aufgeschlagenen Buch suchen. Aber es ist da. Es findet sich nämlich auf der Innenhülle, in der sich die Schallplatte befindet, abgedruckt.
Dieses Mal enthalten die zwei sichtbaren Seiten keine Auszüge aus einer Geschichte ohne Anfang und Ende, sondern die Texte der Songs auf der Platte, die allerdings gesetzt sind wie ein Prosatext.
Chasing Tales: Nicht nur der Titel verweist auf Kurzgeschichten und Bücher
Wundert es da, dass bei „Chasing Tales“, dem Album von 2008, nicht nur – wie bei der ersten Solo LP – der Titel auf Kurzgeschichten verweist, sondern dass auch der Tonträger (mittlerweile eine CD) – im Booklet und auf die CD selbst aufgedruckt – ein Bild von einem Stapel von Büchern enthält?
Das Wort „Chasing“ im Titel ist übrigens mehrdeuting. Deshalb kann man „Chasing Stories“ sowohl mit „Geschichten, die einen verfolgen“ wie auch mit „auf der Jagd nach Geschichten“, aber auch mit „detailliert ausgearbeitete Geschichten“ übersetzen. Beides beschreibt den Inhalt der Tonscheibe zutreffend.
Hemingways` Eisberg weist den Weg
Was den Erzählstil angeht, weist das auf der CD abgebildetes Hemingway-Buch „Männer ohne Frauen“ den Weg. Dieses gilt nämlich als Beispiel für das sog. „Eisbergmodell“, einer von Hemingway betriebenen Erzähltechnik, bei der in lakonischen kurzen Sätzen erzählt wird.
Oft wird dabei das Wesentliche weggelassen. Und trotzdem – oder gerade deswegen – entsteht auf diese Weise in komplette Geschichte in den Köpfen der Leser oder Zuhörer. Paradebespiel hierfür auf Chasing Tales ist „The Chase“ (Die Verfolgungsjagd), das ebenso im film noir Milieu angesiedelt ist wie „Bad Day in the Office“. Hier wird in hörbarem schwarz-weiß hintergründige Plots aus der Welt von Philip Marlowe und seiner Kollegen erzählt und die Instrumente setzten die passenden Akzente.
So hört sich Raymond Chandler in Musik an!
Hörbare Literatur über Menschen am Rande der Gesellschaft
Die meisten dieser Chasing Tales, darunter auch die beiden Lieder, die Frauen gewidmet sind, „Velda“ und „Jazz“ erzählen von Menschen vom Rande der Gesellschaft. Abgehalfterte Männer und faszinierende Frauen bestimmen das Bild (In einem Interview hat Steve Gibbons Pete Feenstra verraten, dass auch Good Guys, Bad Guys And Tricky Women als möglicher Titel für das Album diskutiert wurde.)
Andere Songs beschreiben Szenarien und Milieus wie den Jahrmarkt („Stuck in A Groove“) oder einen Nachtclub („Hot Club in Dreamland“), bei dem es sich um eine Filiale des magischen Theater („Eintritt nur für Verrückte“), in dem Steppenwolf Harry Hallers im Drogenrausch sein weibliches Alter Ego Hermine sucht, handeln. Auch hier gibt es „nur Bilder, keine Wirklichkeit“. Mozart sucht man hier zwar vergeblich, aber Django Reinhart spielt und John Lennon arbeitet hinter dem Tresen
Auch intelligent gemachte Liebessongs jenseits des trivialen Sie-liebt-mich-Sie-liebt mich-nicht-Schemas finden sich („Darwin And All That“, „Still In The Dark“).
Und mit „Limbo No More“ bietet er eine Birmigham-Variante des Themas „I Ain`t Gonna Work On Maggie`s Farm No More“. Auch hier hat der Protagonist keine Lust mehr, weiterzumachen wie bisher. Hier wird dies aber wesentlich relaxter und mit Calypso-Einflüssen, vorgetragen, als das Arbeitsplatzabschiedslied von Bob Dylan.
Und auch ein „Ermutigungssong“ fehlt nicht . „Wonderful Life“ beschließt das Album und entlässt einen als Happy End nach der packender akkustischer Lektüre mit einem positive Gefühl in die Wirklichkeit des Alltags.
Dylan übertroffen!
Gibbons wird wegen seiner Stimme und seiner Coverversionen häufig mit Bob Dylan verglichen. Zieht man diesen Vergleich anhand dieses Albums, dann kann man zu dem Ergebnis kommen, dass Gibbons mit diesem Album den US-amerikanischen Singe-Songwriter übertroffen hat. Dylan hat ja jüngst eine Reihe von „Altersplatten“ vorgelegt, auf denen er sich musikalisch zurückorientiert und Songs aus dem Great American Songbook interpretiert hat.
Auch auf Chasing Stories sind die Töne rückwärtsgewandt. Hier klingt das Ergebnis jedoch zwangloser und natürlicher. Auch weil Gibbons` „Altersstimme“, anders als diejenige von His Bobness nicht geknödelt, sondern gereift klingt. (Aufgenommen wurde das Album im Studio von Bob Lamb, früher Schlagzeuger bei der Steve Gibbons Band. Die Gesangspartien nahm Steve dabei bewußt am frühen Morgen auf, damit seine Stimme möglichst kraftvoll rüber kommt.)
Deshalb wird man mit Fug und Recht sagen können, dass Gibbons mit diesem weithin unbeachteten Album Dylan nicht nur erreicht, sondern hinter sich gelassen hat. (Ergänzung: Dieser Text wurde geschrieben, bevor Bob Dylans „Rough and Rowdy Days“ erschien.)
Weitere Informationen zum Album
Die Band
Aufgenommen wurde das Album in der Besetzung
- Steve Gibbons
- Phil Bond
- Howard Gregory
- Johnny Casell
- Howard Smith
Coverzeichnung von Steve Gibbons selbst, inspiriert von Edward Hopper
Noch bevor man ersten Ton hört, wird man übrigens richtig bereits optisch eingestimmt: Die schwarz-weiße Zeichnung auf dem Cover macht den Eindruck als ob Edward Hopper hier ein Storyboard für die Verfilmung eines Krimis gezeichnet hätte. Und tatsächlich stand der US-amerikanische Maler hier mit seinem Bild „Night Shadows“ aus dem Jahr 1921 Pate. Zu diesem Bild wiederum findet sich im Internet eine Beschreibung, die auch für viele der Songs auf „Chasing Tales“ zutreffen würde:
What I find interesting in this etching, and maybe in many more of Edward Hopper’s works, is the intersection of the following elements: a human figure is set in a man-made environment, but the general impression is typically not one of welcomeness, comfort or fulfillment. Either the figure does not fit the place, or the place does not fit the figure. Something seems to be broken or dislocated and there’s a general sense of withdrawal or of absence. In “Night Shadows” a feeling of anxiety or anguish emanates …../Was ich in dieser Radierung und vielleicht auch in vielen anderen Werken von Edward Hopper interessant finde, ist die Schnittmenge folgender Elemente: Eine menschliche Figur ist in einer von Menschenhand geschaffenen Umgebung angesiedelt, aber der allgemeine Eindruck ist typischerweise nicht der von Begrüßung, Trost oder Erfüllung. Entweder passt die Figur nicht zum Ort, oder der Ort passt nicht zur Figur. Etwas scheint zerbrochen oder verrenkt zu sein, und es besteht ein allgemeines Gefühl des Rückzugs oder der Abwesenheit. In „Night Shadows“ strahlt ein Gefühl der Angst oder der Beklemmung aus …..
Spuren führen zu literarischen Entdeckungen
Auf der Illustration auf der Rückseite des Booklet zur CD finden sich noch Hinweise, die zu weiteren lohnenswerten musikalischen und literarischen Entdeckungen führen. Dort sind auf einem groben Holztisch mit einem Whisleyglas Schallplatten und Bücher aufgehäuft.
Unter dem Gerucktem finde Neben „üblichen Verdächtigen“ wie der Schatzinsel von Robert Lous Stevenson und „Der Geheimagent“ von Joseph Conrad findet sich das bereits oben erwähnte Buch „Männer ohn Frauen“ von Hemingway und ein Werk von Dennis Potter. Dieser dürfte in Deutschland vor allem als Drehbuchautor des Kalte-Kriegs-Thriller „Gorkipark“ bekannt sein. In Großbritannien kennt man nicht nur als Drehbuchautor, sondern auch als Romancier.
Unter anderem hat er auch das Buch „Ticket to Ride“ geschreibt (kein Bezug zum Beatles-Song) geschrieben, das leider noch nicht in die deutsche Sprache übersetzt wurde Das Buch scheint eine interessante, aber nicht einfache Lektüre zu sein. Es wird nämlich wie folgt beschrieben:
Ticket to Ride by Dennis Potter is the kind of book you probably need to re-read to fully appreciate, and I definitely plan on rereading this. Potter’s writing is seductively lyrical. I found myself re-reading sentences and paragraphs just so I could savour the imagery or mood he created. I’m usually a fairly quick reader, but I found myself purposefully taking my time with this book./Ticket to Ride von Dennis Potter ist die Art von Buch, die Sie wahrscheinlich noch einmal lesen müssen, um es in vollem Umfang zu würdigen, und ich habe definitiv vor, es noch einmal zu lesen. Potters Art zu Schreiben ist verführerisch lyrisch. Ich habe mich dabei ertappt, wie ich Sätze und Absätze wieder gelesen habe, nur damit ich die Bilder oder die Stimmung, die er geschaffen hat, auskosten konnte. Normalerweise lese ich recht schnell, aber ich habe mich dabei ertappt, wie ich mir mit diesem Buch mit Absicht Zeit gelassen habe.
Auch dieses Zitat passt auf „Chasing Tales!“
Fährten zu akkustischen Neuentdeckungen
Darüber hinaus finden sich auch auf dem Tisch auch Tonträger. Natürlich Vinyls, keine CDs!
Außer einem ebenfalls „üblichen Verdächtigen“ (Frank Sinatra) werden auch wieder Spuren zu interessanten Neuentdeckungen gelegt.
Das ist zum einen der US-amerikanische Jazzsänger und Texter Oskar Braun Jr., der auch politisch im Bereich der Gleichberechtigung der Afroamerikaner sehr aktiv war
Die zweite Fährte, der es lohnt nachzugehen, führt zu Phil Harris, ebenfalls eine schillernde Gestalt: weißer US-amerikanischer Musiker, Bandleader, Komiker, Radiomoderator und Schauspieler.
Dieser kann u.a. zwei Sterne auf dem Hollywood (je einer in der Kategorie Musikaufnahmen und der Kategorie Radio). Impressionierend! Am meisten hat uns jedoch beeindruckt, dass er dem singenden Bären „Balu“ in der Originalfassung des Zeichentrickfilms Das Dschungelbuch (1967) seine Stimme lieh.
Deshalb probieren Sie es mit Gemütlichkeit und legen sich mal „Chasing Tales“ auf.
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